VON DER KUNST, DIE UNWAHRHEIT ZU SAGEN, OHNE ZU LÜGEN
AutoBILD hatte am 27.09.1992 unter der Schlagzeile “Mein Gott, Walter!” eine weitere Folge ihrer Serie “Autos, die Geschichte machten” veröffentlicht.
ЗИС-110Б mit DDR-Klemmspiegel und Phantasienummernschildern
In diesem Beitrag arbeitete sich die Irrlehre des Kulturvandalismus oder der Bilderstürmerei an einem Auto ab, genauer gesagt am Wagen des ersten und einzigen Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck.
Der Kampf um Symbole und deren Deutungshoheit, wie sie uns etwa bei übermalten Graffitis begegnen, war mir stets fremd. Ein Auto, das Geschichte machte?
Auszug aus dem Artikel der AutoBILD - leider sind beim Bearbeiten ein paar Sätze verloren gegangen.
Die bewertende Konnotation, sprich, der Unterton, bereitet mir keine Probleme. Wer es feinsinniger mag, sollte nicht zur Bildzeitung greifen. Die Kommunisten hatten die DDR in das größtes politische Gefängnis der Weltgeschichte verwandelt und angesichts ihrer Erfolgs- und Talentlosigkeit Spott und Häme redlich verdient. Schwieriger wird es schon mit dem Spitzbart und seiner schrillen Fistelstimme. Wikipedia weiß von einem “seit mindestens 1925 bestehendes Kehlkopfleiden”, einem körperlichen Gebrechen also und ich möchte mich nicht mit Menschen und deren Zeitungstexten umgeben, die Mitmenschen anhand von deren Bartwuchs charakterisieren. Was käme als nächstes? Die Hakennase?
Das Denken der Autoren offenbart jedoch auch deutlich wahrnehmbare Tendenzen zum Symbolismus, wo mangels Angeklagtem das Auto als Projektionsfläche herhalten muß.
Im Wageninneren herrschte ein angenehmer Blauton vor. Daran kann auch die “stalinistische” Herkunft des Fahrzeugs nicht ändern. Die Färbung der Bezugstoffe zählt zu den ausgesprochenen Seltenheiten beim ZIS. Mir ist nur noch ein weiterer Wagen mit diesem Feature bekannt.
Lassen Sie, werter Leser, das oben Gesagte doch einmal auf sich wirken. Ist bei einem 600er Mercedes auch alles Lüge, nur weil das Lenkrad nicht aus Stoßzahnmaterial besteht?
Petrochemischer Kunststoff war vor dem Kriegseintritt der USA technologisch der letzte Schrei, vergleichbar mit dem aktuellen Status von Kevlar und wurde daher auch als Verkleidungsmaterial für Tachometer und Radio im Packard OneEighty ausgewählt, um ein heute nur noch schwer nachvollziehbares Gefühl des absoluten Luxus wirksam zu unterstreichen.
Und stimmt denn überhaupt, daß das “Holz auf dem Armaturenbrett aus Plaste” bestand? Tatsächlich ließ sich der Bildzeitungsreporter durch den geschickten Farbverlauf auf dem Blech offenbar noch ein halbes Jahrhundert später optisch täuschen.
Und wie steht es mit den Leibwächtern? Haben Bundesminister, Bundeskanzler oder Bundespräsident etwa keinen Personenschutz?
Auch 2023 ist ein Gewicht von 2,5 Tonnen großen Fahrzeugen wesenseigen, wie beispielsweise der aktuellen GLE-Generation von Mercedes. Warum sollte das vor 75 Jahren, als Leiterrahmen, Starrachsen und Blattfedern übliche Konstruktionsmerkmale bildeten, anders gewesen sein?
Und wie verhält es sich mit dem im Text erwähnten “Moskwitsch, gefertigt mit den 1947 in Deutschland demontierten Anlagen des Opel Olympia”? Stimmt es, was die AutoBild 1992 meldete oder war es nur so wie vieles andere ungefähr wahr?
Konstruktionsunterlagen und Fertigungsmaschinen des Opel Kadett (und nicht des Olympia) bildeten die Grundlage für den Moskwitsch 400.
“Neu, anders oder gar revolutionär ist nichts an ihm”…
Im historischen Kontext betrachtet, gab es in der Sowjetunion von 1946 nichts seinesgleichen. Kein Pkw-Motor mit dieser Kraftausbeute war erhältlich, kein Wagen bot solch eine Verwindungssteifigkeit, die durch Rahmenquerstreben, Torsionsstabilisatoren und einem hinteren hydraulischen Stabilisator zusätzlich unterstützt wurde. Mit dem hypoidverzahnten Differential betrat man in der UdSSR Neuland (in den USA wurde dieser Schritt bereits vor dem Krieg realisiert). Für die dabei auftretenden hohen Drücke mußte eigens ein Öl entwickelt werden. Es sollten noch Jahre ins Land gehen, bis in europäischen Spitzenfahrzeugen eine Klimaanlage angeboten werden würde - in einigen ZIS-115 war diese bereits integriert. Und dann dieser unvergleichliche Auftritt!
Als ein paar Jahre später der erste BMW 502 mit Achtzylinder und 100 PS auf den Markt kam, war das eine Sensation. Die Motoren des Mercedes 300 Adenauer “tuckerten” je nach Hubraum mit 115 bis 125 PS. Und die Tachometer beider Fahrzeuge endeten ebenfalls erst bei 180 km/h.
Ups, von vorne war DC 41.241 auf dem Nummernschild zu lesen.
Und ist Ihnen, werte Leser, aufgefallen, das AutoBILD von einem Roadster schreibt? Seit wann nennt man siebensitzige Kabrioletts mit Seitenscheiben Roadster?
Wer’s sachlicher mag, dem ist ein Blick in den Testbericht von 1949 zu empfehlen.
Für diejenigen unter Ihnen, die sich heute auf die Suche nach genau diesem Wagen begeben wollen, anbei der Hinweis, daß jener wenige Jahre nach dem Entstehen der AutoBILD-Reportage verbrannte.
WEITERFÜHRENDE LINKS
Roter Platz (Russland-erleben.com, deutsch)
Georgi Schukow (Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, deutsch)
Nikolai Bulganin (Wikipedia, deutsch)
Quellenverzeichnis
Alle Abbildungen: AutoBild vom 27.07.1992