Stalinit und Kanadabalsam

Zu den interessantesten konstruktiven Merkmalen des ZIS-115 zählen zweifellos die Fenster aus Panzerglas. Da man die äußere Ähnlichkeit mit dem ZIS-110 gewährleisten wollte, bildete die mangelnde Beschußfestigkeit der dünnwandigen Fenster die größte Hürde. Doch allein durch Erhöhung der Glasstärke, die beim ZIS-115 beeindruckende 75 Millimeter mißt, kann man einer mit ca. 2.500 km/h fliegenden Gewehrkugel nicht trotzen, geschweige denn mehreren Feuerstößen aus automatischen Waffen.

Um die sich widersprechenden Eigenschaften Transparenz und Beschußfestigkeit erfolgreich in Einklang zu bringen, ohne das äußere Erscheinungsbild des Wagens nachhaltig zu verändern, bedurfte es höchstmöglichem ingenieurtechnischen Aufwand. Doch man mußte nicht bei Null beginnen. Panzerglas der Sorte K-4, in zeitgenössischen sowjetischen Dokumenten auch als “transparente Panzerung” bezeichnet, hatte sich während der Konstruktionsphase des ZIS-115 bereits vieltausendfach als Frontverglasung des Schlachtfliegers Il-2 bewährt (Glasstärke: 64 Millimeter). Bei näherer Betrachtung werden rasch weitere konstruktive Parallelen zwischen dem schwer gepanzerten Flugzeug und dem ebenso schwer gepanzerten Wagen sichtbar. So war die Bodenwanne der Il-2 kein separates Bauteil, sondern integrale Komponente des Flugzeugkörpers, genau wie die Fahrgastzelle des ZIS-115 nicht durch separate Beplankung geschützt wurde, sondern als integrales Element in der Gesamtkonstruktion enthalten war. Auch das wesentliche konstruktive Merkmal der Panzerung, bestehend aus geschweißtem und genietetem Stahl, der mit einem Blechmantel umkleidet war, findet sich sowohl im legendären Fluggerät, als auch in Stalin’s Wagen wieder. Was lag also näher, als die stählerne Fahrgastzelle und Fenster genau in jenem Werk in Podolsk herstellen zu lassen, in welchem kurz zuvor noch die letzten Il-2 montiert worden waren. Dort waren die Spezialisten, dort waren die passenden Arbeitsmaschinen und darüber hinaus war das Werk ein militärisches Objekt, gut abgeschirmt und überwacht.

Originaltext: Eine Schülerin einer Berufsschule, Komsomol-Mitglied A. Fedchenkova, stellt das Panzerglas eines Il-2-Cockpits fertig. 1942

An der Fahrzeugaußenseite kamen zwei hochfeste, polierte Gußglasscheiben mit einer Gesamtstärke von 35 Millimetern, getrennt durch eine Polymerfolie, zum Einsatz.
Als weiteres massives Element folgte ein viskoses Plexiglas mit einer Dicke von 25 Millimetern, welches weniger spröde ist und durch seine schlagfeste Zähigkeit die kinetische Energie der Gußglassplitter dämpfen sollte.
Die beiden äußeren Gußglasfenster wurden mit der dazwischen befindlichen Polymerfolie verklebt. Als Klebstoff benutzte man sogenannten Kanadabalsam, ein transparentes Baumharz, dessen Lichtbrechungsindex sich von dem von Glas kaum unterscheidet. Aufgrund dieser besonderen Eigenschaft wird es auch zur Fixierung von Objekten beim Mikroskopieren benutzt.

Da Harz ein organischer Stoff ist, zeigen sich in Abhängigkeit der Belastung durch Sonnenlicht früher oder später Spuren natürlicher Alterung.

Die Innenseite der Fenster besteht aus einer 6 Millimeter starken Schicht aus gehärtetem Glas, das auch „Stalinit“ genannt wird.
Auf zwei Luftkammern wird in einem späteren Kapitel eingegangen.
Das Zusammenspiel der Fensterkomponenten wird in den folgenden Abbildungen gut verdeutlicht.

Kabul 2009 - die Aufnahme zeigt die Wirkung eines Granatsplitters. Einige Jahre später verbrannte der hier gezeigte Wagen des afghanischen Königs.

Hinteres Ausstellfenster am Fahrzeug von Liu Shaoqi, Präsident der Volksrepublik China von 1959 bis 1968. Der Wagen ist im Oldtimermuseum in Peking ausgestellt. Vergleicht man das Schadenbild dieses Wagens mit dem in Kabul, dann weisen hier die äußeren Einwirkungen auf eine sichtbar geringere Auftreffenergie hin. Möglicherweise handelt es sich um Spuren von Steinwürfen.

Falls Sie, so wie ich, mit dem Namen Liu Shaoqi erst einmal nicht viel anfangen können; er war 1959 der designierte Nachfolger Mao’s, aber Mao kam noch einmal zurück an’s Ruder und nahm im Rahmen der Kulturrevolution u.a. auch an seinem früheren Mitstreiter Liu Rache, denn dieser hatte ihn zuvor kritisiert.
Im Oldtimermuseum Peking versucht man sich an einer Erklärung für die Beschädigungen am Wagen. Auf einer Tafel, die neben dem Wagen angebracht worden ist, heißt es beschönigend: “Das Fenster ist voller Narben, Zeugnis einer besonderen Zeit.”

Familienbild mit Liu Shaoqi vor einem ZIS-110
Bildbeschriftung: “Liu Shaoqi, his wife Wang Guangmei and Song Qingling at Shanghai Airport in April 1957“

Bei der obigen Aufnahme handelt es sich um ein zeitgenössisches Archivbild.
“Das Ergebnis des Heckscheibentests: drei Kugeltreffer ohne Durchschlag und Splitterabwurf. Blick von innen.”


WEITERFÜHRENDE LINKS (Wikipedia; deutsch)

  • K-4 Panzerglas (Wikipedia, deutsch)

  • IL-2 (Wikipedia, deutsch)

  • Schilderung des letzten Monate von Liu Shaoqi (Sina.cn; chinesisch)


Quellennachweis

  • Abbildung 1 - Modern Mechanix, Heft 07/1936

  • Abbildung 2 - Encyclopedia.mil.ru

  • Abbildung 3 - Uncle-vova.com (ich habe die deutsche Übersetzung hinzugefügt)

  • Abbildung 4, 5, 6 - Guscha.de

  • Abbildung 7 - Sina.cn

  • Abbildung 8 - Staatsarchiv der Russischen Föderation

  • Maßangaben der Stärken der Glassegmente beim ZIS-115: Timofey Isaev

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Entstehungsgeschichte des ZIS-115 Teil 1

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